TRAGEN AUS PHYSIOTHERAPEUTISCHER SICHT

Das Tragetuch - ein heiß diskutiertes Thema. Wer mit einem Kind im Tragetuch durch die Stadt geht, erfährt entweder begeisterte Zustimmung oder erboste Empörtheit von Passanten jeden Alters. Nach meinen Erfahrungen als Kindertherapeutin und als Mutter eines "Tragetuchkindes" betrachte ich es als unsere Aufgabe, die Eltern der Kinder in unseren Praxen und in den Kinderkliniken zum richtigen Tragen anzuleiten. Denn das Getragenwerden ist für viele der Kinder die beste Therapie.


Kinder mit angeborener Hüftdysplasie sind im Tragetuch gut aufgehoben

Evelin Kirkilionis hat in ihren Arbeiten beschrieben, dass die Kinder, die seitlich auf dem Becken der Eltern sitzend getragen werden, automatisch den Hüftspreizwinkel einnehmen, der für die Behandlung der Hüftdysplasie optimal ist. Zusätzlich wirkt die ständige Bewegung als formativer Reiz des Femurkopfes auf die Hüftpfanne. Die Erfahrung zeigt, dass häufig getragene Kinder mit Hüftdysplasie weniger Probleme mit der Beckenaufrichtung nach dorsal haben als wir es bei den Kindern kennen, die eine Spreizhose tragen. Häufig berichten Eltern, wie sehr die Spreizhose beim Tragen oder Kuscheln stört. Hier ist das Tragetuch eine optimale Alternative, die präventiv oder in Absprache mit dem Arzt alternativ zur Spreizhose verwendet werden kann. Vorausgesetzt, die Tragetechnik wird korrekt durchgeführt, denn eine falsche Tragetechnik oder Tragehilfe kann sich auch negativ auf die Entwicklung der Hüftgelenke auswirken.


Frühgeborene können im Tragetuch etwas von der geborgenen Zeit im Mutterleib nachholen

Das Frühgeborene mußte auf viele Wochen der Geborgenheit im Mutterleib verzichten - was folgt danach? Immer wieder wurde in Tierversuchen nachgewiesen, dass der Körperkontakt für die Tiere lebenswichtig ist! Die positive Auswirkung auf das Immunsystem lässt sich im Blutbild nachweisen. Beobachtungen am Johns-Hopkins Hospital Baltimore/ USA an dreizehn stark im Wachstum zurückgebliebenen Kindern aus gestörten Familien bestätigen, daß intensive, zärtliche Zuwendung eine deutliche Gewichtszunahme zur Folge hatte. Auch auf vielen Frühgeborenenstationen hat man gelernt, daß die Kinder schneller an Gewicht zunehmen, wenn sie mehr Körperkontakt genießen. Daher hat mittlerweile das "Känguruhen" Einzug gehalten, und häufig wird aus denselben Gründen Babymassage durchgeführt. Es läßt sich daher wohl kaum bestreiten, daß gerade für die infektgefährdeten und zarten Frühchen das Getragenwerden von enormem Nutzen ist.


Kinder mit zentralen Koordinotionsstörungen oder Entwicklungsrückständen erhalten im Tragetuch eine Fülle fördernder Reize

Das Bewegungsverhalten dieser Kinder weicht von der Norm ab, häufig begleitet von einem abnormen Muskeltonus. Was geschieht mit den Kindern im Tragetuch? Das "feste Kind" wird durch das permanente Bewegtwerden weicher und geschmeidiger. Dies gibt unserer Therapie eine erheblich bessere Ausgangsbasis. Die physiologischen Bewegungsmuster erscheinen in der Therapie schneller und können vom Kind besser in die Spontanmotorik eingebaut werden. ähnliches gilt für die hypotonen Kinder. Sie werden wacher und interessierter, und ihr Muskeltonus nimmt zu. Besonders wichtig ist bei diesen Kindern die Kontrolle der Haltung des Kindes im Tuch durch den Therapeuten. Während des Getragenwerdens erfahren die Kinder außer dem Bewegtwerden eine Vielzahl weiterer Reize. Schlüpfen Sie für einen Moment in die Haut eines Säuglings: Der übliche Zivilisationssäugling liegt die meiste Zeit im Bettchen oder Kinderwagen - nur wenige Reize erreichen das Kind. Das Tragetuchkind wird dagegen ständig bewegt, gedrückt, geschaukelt, es hört Stimmen und Lärm, es riecht das Essen auf dem Herd, es spürt den Wind im Gesicht. Fortlaufend erhält das Gehirn eine Fülle von Informationen, ohne daß diese das Kind überfordern, weil es den Rückhalt einer sicheren Umgebung genießt. Deutliche Reize in sicherer Umgebung wahre Entwicklungsimpulse für das Gehirn.


"Tragekinder" entwickeln sich schneller, sind ruhiger und zufriedener

In dem Maße, in dem das Kind seine motorischen Fähigkeiten auf dem Boden entwickelt, reduziert sich die Zeit, in der das Kind getragen wird. Erstaunlicherweise vollzieht sich die Entwicklung der Tragekinder schneller und fließender, obwohl sie seltener auf dem Boden liegen. Es widerspricht den bisherigen Theorien, ist aber ein Entwicklungsvorteil, der besonders unseren motorisch auffälligen Kindern zugute kommen sollte. Ein weiterer positiver Effekt ist die Zufriedenheit der Tragekinder. Sie schlafen im Tuch selig und süß, sind ausgeglichener und weniger schreckhaft. Was für ein Segen für so manches strapazierte Mutter-Kind-Verhältnis. Wie oft sind unsere Problemkinder nicht auch "Schreikinder", zusätzlich belastet durch die täglichen heimischen "Turneinheiten". Nicht selten ermöglicht ein zufriedeneres Kind eine effektivere Therapie.


Abschließend meine Antwort auf die häufigsten Einwände:

1. Einwand: Das Kind wird zu sehr verwöhnt

Mitarbeiter der Forschungsstelle für Humanethologie in der Max-Planck-Gesellschaft beobachteten Familien auf den Trobriand-Inseln vor der Ostküste Neuguineas. Weitere Wissenschaftler taten dies bei den !Kung in Botswana und bei den Inuit im hohen Norden Alaskas. Sie kamen zu folgendem Ergebnis: Anders als bei uns in den westlichen Industriegesellschaften genießen Säuglinge und Kleinkinder in tradtitionell lebenden Kulturen beinahe ständig Körperkontakt mit ihren Müttern, Vätern und Geschwistern. Trotzdem entwickeln sich die kleinen Trobriander, !Kung oder Inuit nicht zu verwöhnten Tyrannen. Im Gegenteil: Sie sind früher selbstständig als Gleichaltrige in den USA oder Westeuropa.


2. Einwand: Das Getragenwerden verursacht Haltungsschäden.

denn das Kind muß erst gewisse Entwicklungsschritte in Rückenlage und Bauchlage sowie das Drehen vollzogen haben, damit die Rumpfmuskulatur ausreichend vorbereitet ist. Demnach müßten die getragenen Kinder der Naturvölker gehäuft Haltungsschäden davontragen - das hat noch niemand nachgewiesen. Dagegen belegt eine Untersuchung von Kirkilionis an 192 getragenen Kindern, daß die Häufigkeit an Haltungsauffälligkeiten bei diesen Kindern unter dem durchschnittlichen Prozentsatz liegt. Damit erübrigen sich alle weiteren theoretisierenden Diskussionen.


3. Einwand: Ja, aber die getragenen Kinder in den Entwicklungsländern liegen eher auf dem Rücken der Mutter, die vorgebeugt auf dem Feld arbeitet

Damit dieser Einwand berechtigt ist, müßten alle Naturvölker, die ihre Kinder tragen, Ackerbau betreiben. Die Amerikanerin Jean Liedloff beschreibt in ihrem Buch ein ganz anderes Leben der Yequana-Indianer im Dschungel Venezuelas, mit denen sie mehrere Jahre gelebt hat.


4. Einwand: Aber das Tragen schadet der Wirbelsäule der/des Tragenden

Für Eltern mit vorgeschädigtem Rücken mag dies zutreffen. Beginnt man mit dem Tragen des Säuglings aber in seinen ersten Lebenstagen, so gewöhnt sich die tragende Person in der Regel ohne Probleme an das steigende Gewicht. Schwieriger wird es, wenn man erst den 7 oder 10 Monate alten Säugling zu tragen beginnt. Auch hier ist die Anleitung durch uns Physiotherapeuten in richtigem Bewegungsverhalten der Eltern hilfreich.


5. Einwand: Das Kind bekommt nicht genug Luft

Auch hier widerlegt die Erfahrung diese Behauptung. Die Tragetuchkinder entwickeln sich gut und scheinen nicht unter chronischem Sauerstoffmangel zu leiden. Ihre Zufriedenheit und Ausgeglichenheit spricht ebenfalls für gesunden und ruhigen Schlaf im Tuch.

Nach diesen Betrachtungen sind die theoretischen Vorbehalte gegenüber dem Tragetuch durch die Erfahrung vieler Kulturen widerlegt. Bereits Johann Wolfgang v. Goethe hat das Dilemma unserer westlichen Kultur erkannt: «Die Natur versteht keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.»

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